Wahrscheinlich ist es das schwierigste Gespräch in unserer Serie. Wir wollen uns nur ein Bild machen. Aber das, was wir heute zeichnen, ist unvorstellbar. Es macht deutlich, wie schwer es ist zwischen Weltpolitik und Stammtischparolen einerseits und den einzelnen Schicksalen unserer syrischen Kinder unter dem Aspekt der Menschlichkeit andererseits zu unterscheiden. Iris Betz und Gerda Schulze brauchen unseren Berater und Übersetzer Kasem, als sie mit Judy über die Flucht der Familie reden. Sie spricht für ihre beiden Brüder (12 und 20 Jahre), die aufgrund ihres Hörschadens nicht alles sofort verstehen. Iris und Gerda fragen oft nach, so unglaublich ist das, was sie hören. So schwer, so traurig und so weit weg vom idyllischen Ambiente der Lounge unseres Clubs, wo wir das Gespräch führen.
Elternhaus wird dem Erdboden gleichgemacht, um Truppen ein freies Sichtfeld zu geben
Judy lebt mit ihren Eltern und den beiden Brüdern glücklich in Harasta, einem Vorort von Damaskus. Sie geht zur Schule. Ihr Bruder startet das Studium. Ende 2012 beginnt das Militärregime eine Kampagne gegen die Aufständigen. Judy ist zehn als die Bomben das elterliche Haus zerstören. Es wird dem Erdboden gleichgemacht, um den Truppen ein freies Sichtfeld zu geben. Harasta wird heute im Internet als die verbrannte Stadt beschrieben. Judy flüchtet mit ihren Geschwistern zur Oma in die Nachbarstadt. Hier kann sie noch für vier weitere Jahre zur Schule gehen. Dann erkrankt die Großmutter und ein Umzug zu einer weiteren Oma auf dem Land soll Sicherheit bringen. Vergebliche Hoffnung: Die Schule wird auch hier zerstört. Den Brüdern droht das Schicksal von Zwangssoldaten, obwohl sie seit der Geburt hörgeschädigt sind. Die Eltern beschließen die Flucht.
Ungewissheit! Repressalien! Angst!
Das Geld für die Fluchthelfer kommt vom Onkel. In der Nacht geht es nach Damaskus und von dort mit dem Flugzeug in den Libanon. Dort halten die Schleuser sie fest, bis sie mit ca. 50 weiteren Flüchtlingen in einen Lastwagen gepfercht werden. 12 Stunden! Ohne Decken! Ohne Nahrung! Dann wechselt man in einen Bus. Gendarmen entdecken den Bus einige Stunden später. Gegen eine „Gebühr“ von 25 € pro Person darf man weiter. Was die Flüchtlinge nicht wissen: Sie werden an den Ausgangspunkt ihrer Flucht zurückgebracht.
Der zweite Versuch der Schleuser mit Autos gelingt nur den Eltern. Judy bleibt mit ihren beiden Brüdern zurück. Selbst die Schlepper zeigen hier etwas Menschlichkeit und bringen die drei Kinder zum Meer.
Das erste Boot ist voll, das zweite auch. Die Schlepper sorgen für etwas zu Essen und ein Versteck in einer Moschee für die kalte Nacht. Aus welchen Gründen auch immer, der Prediger verrät die Flüchtlinge an die Polizei. Ein ganzer Tag im Gefängnis folgt. Ungewissheit! Repressalien! Angst! Der Geschwister sammeln ihr letztes Geld, bestechen die Wächter und werden abends freigelassen. Zurück zum Ufer. Im ganzen Elend endlich ein kleiner Glücksmoment: Die Familie findet sich wieder.
Zurück zum Ufer. Zwei Tage warten Sie hier, bis ein Boot Sie endlich mitnimmt und sie nach Griechenland bringt. Auf dem Weg ein schrecklicher Anblick, eines der anderen Schlauchbote ist vor den Augen der Kindern gesunken. Die Familie schafft es aufs Festland. Flüchtlingslager im Schnee und Regen. Weitere drei Tage.
Ein sicheres Ende
Es folgt der lange Weg über Mazedonien nach Österreich. Gewaltmarsch. Bus. Gewaltmarsch. Die Eltern bitten die Kids nicht aufzugeben. Dann schließlich zumindestens ein sicheres Ende: Mit dem Zug nach Köln. Hückeswagen! Wermelskirchen! Endlich wieder Hörgeräte, die den beiden Brüdern auf der Flucht gestohlen worden waren. Jetzt können sie die Lehrer der VHS wieder verstehen.
Judy und ihre Brüder zeigen uns ihre Aufenthaltsgenehmigungen. Jetzt wollen sie deutsch lernen. Judy will Dolmetscherin werden. Sie lacht, wenn wir ihr sagen, dass wir sie unterstützen wollen.
In den Herbstferien kann sie vielleicht im Sekretariat etwas helfen. Irgendwo startet jede Integration. Warum nicht auch bei uns? Die beiden Brüder brauchen aufgrund des Hörschadens einen speziellen Unterricht. Auch hier treten wir vor Ort mit den Helfern in Wermelskirchen in Verbindung. Wir kümmern uns.
Judy und ihre Brüder gehen zur Driving Range. Keinmal haben sie bis heute gefehlt. Wir bleiben zurück. Das Gespräch sitzt uns weiter in den Knochen…
Das Gespräch mit Judy und ihren Brüdern führten Gerda Schulze und Iris Betz.